Wo Konsenszwang herrscht, droht der Zerfall. Der Druck gesellschaftlicher Großkrisen führt schnell zu normativen Vorgaben. Zu welchen Verwerfungen das führt, haben wir in der Corona-Pandemie gesehen, aber auch bei Themen wie Migrationspolitik oder Ukraine-Krieg.
Dr. Svenja Flaßpöhler
deutsche Philosophin, Journalistin und Autorin
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler hat jüngst in einem Interview mit der Zeitung »Welt« über ihre Erfahrungen in einer öffentlich-rechtlichen Talkshow berichtet. Dieses Interview ist aus Sicht der Meinungsfreiheit sehr interessant und gibt Anlass, auf das Verfassungsrecht und den Umgang mit Meinungen hinzuweisen.
Abweichende Meinungen stören im öffentlich-rechtlichen Rundfunk
Flaßpöhler schildert in dem Interview eine Situation, als sie am 15. November 2021 in der ARD zu Gast in der Sendung »Hart, aber fair« war (damals noch mit Moderator Frank Plasberg). Sie habe sich seinerzeit gegen die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Gleichzeitig sagte sie, dass Nicht-Geimpfte keine Tyrannen seien, denen man die Schuld an der Fortdauer der Pandamie geben könne. Dies sei damals unsagbar gewesen.
Sie habe eine Abweichlerposition innegehabt und der damalige Moderator, Frank Plasberg, habe eindeutig Position bezogen und sich mit den anderen vier Diskutanten gegen sie verbündet. Das sei keine sportliche Gegnerschaft mehr gewesen, sondern »Vernichtung«.
»Die einzige Methode, mit der ich damals sozial überleben konnte, hieß: stillhalten.« – so Flaßpöhler. Eine solche Situation in einer Talkshow kann also dazu führen, dass sich bestimmte Personen nicht mehr an der öffentlichen Meinungsbildung beteiligen und verstummen. Dies wird auch als »Silencing Effekt« bezeichnet.
Dieser Verstummungseffekt wird meistens besprochen, wenn von »Hassrede« Betroffene aus dem öffentlichen Diskurs herausgedrängt werden und sich nicht mehr zu Wort melden. Wenn das die Konsequenz einer Sendung im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist, entspricht das überdies auch nicht dem Geiste des Medienstaatsvertrages, da nach diesem eine Verpflichtung zur Meinungsvielfalt besteht.
Auch dieser Effekt raubt dem öffentlichen Diskurs Stimmen – Stimmen, die unentbehrlich sind, damit der demokratische Diskurs nicht zur Diktatur der Mehrheit verkommt.
Prof. Dr. Nora Markard / Eva Maria Bredler
Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Münster
zum »Silencing Effekt«
Flaßpöhler schildert weiter, dass nach ihrem Erleben das Kernproblem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sei, dass man Positionen, die man selbst nicht teile, vielleicht abbilden wolle, wenn überhaupt, aber nicht wirklich diskutieren wolle. Was man selbst ablehne, dürfe nicht vorkommen.
Meinungsfreiheit bedeutet auch Meinungsvielfalt
Der Befund Flaßpöhlers ist äußerst problematisch. Denn Meinungsfreiheit bedeutet vor allem auch Meinungsvielfalt.
Der öffentliche Diskurs lebt vom respektvollen Zuhören, vom Bemühen um sachliche Argumentation und von der Bereitschaft, sich gegebenenfalls auch von der Meinung des anderen überzeugen zu lassen – kurz: von der Erkenntnis, dass nicht immer ich recht habe, sondern die andere Meinung ebenfalls bedenkenswerte, oft sogar die besseren Argumente vorweisen kann.
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof
Staatsrechtler und früherer Vizepräsident des Bundesverfassungsgericht
Der Staatsrechtler Prof. Dr. Ferdinand Kirchof spricht davon, dass uns die Grundvoraussetzung jeglicher Meinungsvielfalt derzeit verloren ginge (NJW 2023, 1922 ff.). Man stoße immer häufiger auf den gesellschaftspolitischen »Missionar«, der sich im Besitze der endgültigen Wahrheit wisse. Er besitze ein festes Weltbild und ließe sich in seiner vorgefassten Meinung von niemandem und keinem Argument beirren. Er sei infolge seiner Voreingenommenheit kommunikationsunfähig. Eine Diskussion sei ihm nur Gelegenheit, die eigene Auffassung durchzusetzen. Der Gesprächspartner würde ihm zum Meinungsgegner; statt der Optimierung einer Problemlösung und dem Hinterfragen von Standpunkten in gegenseitiger Auseinandersetzung dulde er nur eine einzige Meinung, nämlich seine eigene. Gefragt sei bei ihm nicht Richtigkeit und Realitätsnähe von Argumenten, sondern Gefolgschaft mit den „Guten“ und Abweisung der „Bösen“ im Diskurs.
An der Debatte um die allgemeine Impfpflicht oder auch die einrichtungsbezogene kann man insofern in Bezug auf die Meinungsfreiheit vieles lernen. Dies vor allem vor dem Hintergrund, dass die einrichtungsbezogene (und damit auch die allgemeine) Impfpflicht verfassungswidrig gewesen sein dürfte. Zumindest geht das Verwaltungsgericht Osnabrück von einer Verfassungswidrigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht aus und hat die Frage der Verfassungswidrigkeit dem Bundesverfassungsgericht zur erneuten Entscheidung vorgelegt.
Wäre also die Impfpflicht verfassungswidrig, hätten sämtliche Politiker, Prominente, etc., die für eine solche eingetreten sind, sich für etwas Verfassungswidriges eingesetzt. Das würde bedeuten, dass Flaßpöhlers Position gegen eine Impflicht die einzig verfassungsrechtlich zulässige gewesen wäre. Zumindest war ihre Position die einzige Position, die klar verfassungsmäßig war. Wenn Flaßpöhler zum Umgang mit ihr in der ARD-Sendung von »Vernichtung« spricht, scheint sie nicht das Gefühl zu haben, als angesehener »Gesprächspartner« eingeladen worden zu sein, sondern als »Meinungsgegner«, den es gilt zu »missionieren« (um die Worte Kirchhofs zu verwenden).
Sollte das Bundesverfassungsgericht die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts Osnabrück bestätigen, werden die Politiker, Prominenten, etc., die agressiv eine Impfpflicht propagierten, vermutlich an ihrer früheren Ansicht nicht festhalten. Das wäre ein Beispiel dafür, dass die Meinungen und Ansichten anderer vielmehr Achtung und Respekt verdienen. Denn derjenige, der heute keine anschluss- und mehrheitsfähige Position vertritt, kann derjenige sein, der morgen die Mehrheitsmeinung (oder – wie vielleicht im Fall in Bezug auf die Frage der Impfpflicht – die einzige Meinung, die mit dem Grundgesetz vereinbar ist) vertritt.