Her Haldenwang treibt so ein bisschen Selbstermächtigung: er führt eine Kategorie ein, die rechtlich nicht vorgesehen ist, und die er dann selber auslegt und interpretiert.
Prof. Dr. Josef Franz Lindner
Professor für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Augsburg
Das dem Bundesinnenministerium nachgeordnete Bundesamt für Verfassungsschutz hat im April 2021 unter der Führung ihres Präsidenten Thomas Haldenwang (CDU) einen neuen Phänomenbereich »Verfassungsschutz-relevante Delegitimierung des Staates« eingerichtet. Die Akteure dieses Phänomenbereichs würden demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich machen, ihnen öffentlich die Legitimität absprechen und zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen aufrufen – so der Verfassungsschutz. Diese Form der Delegitimierung erfolge meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen.
Regierung muss Kritik aushalten
Die Möglichkeit von Machtkritik gehört zur Essenz der Demokratie. »Jeder ist berechtigt, auch heftige Kritik an der Regierung zu üben. Kritik ist das Lebenselixier der Demokratie. Sie als ‘Agitation’ zu verunglimpfen, steht dem Verfassungsschutz nicht zu. ‘Ständige’ Kritik ist nicht nur erlaubt, sondern wird von der demokratischen Opposition geradezu erwartet. Nur mit These und Antithese, Kritik und Gegenkritik entfaltet sich ein demokratischer Diskurs.« So Prof. Dr. Dietrich Murswiek, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg. Mit der Anprangerung »ständiger Agitation« gegen die Regierung als angeblich den demokratischen Staat delegitimierend würde der Verfassungsschutz versuchen, oppositionelle Strömungen zu delegitimieren. Solche hoheitlichen Eingriffe in den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung seien mit dem Demokratieprinzip und mit der Meinungsfreiheit nicht vereinbar.
Prof. Dr. Murswiek kritisiert auch den Begriff »Verächtlichmachen«. Dies sei ein Gummibegriff, der sich beliebig biegen lasse.
Die unklaren Begrifflichkeiten können überdies zu einem Einschüchterungseffekt führen. Prof. Dr. Christoph Gusy, Professor für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld schreibt: »Es ist gerade diese Ungewissheit, die bei potentiell Betroffenen wie Nichtbetroffenen zu Einschüchterung und Grundrechtsverzicht führen können, welche ihrerseits geeignet wären, die freiheitliche und pluralistische Demokratie zu delegitimieren.«
Die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts
Nach dem Bundesverfassungsgericht können bloße Meinungsäußerungen keinen Angriff auf die demokratische Grundordnung darstellen. Grundsätzlich gilt nach dem Bundesverfassungsgericht, dass der Verfassungsschutz erst in Grundrechte eingreifen darf, wenn ein »spezifischer verfassungsschutzbezogener Aufklärungsbedarf« vorliegt. Verfassungsfeindliche Bestrebungen im Sinne des Bundesverfassungsschutzgesetzes müssen »objektiv geeignet sein, über kurz oder lang politische Wirkungen zu entfalten. Sie müssen über das bloße Vorhandensein einer politischen Meinung hinausgehen, auf die Durchsetzung eines politischen Ziels ausgerichtet sein und dabei auf die Beeinträchtigung eines der Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielen. Die verantwortlich Handlenden müssen auf den Erfolg der Rechtsgutbeeinträchtigung hinarbeiten. Die bloße Kritik an Verfassungsgrundsätzen reicht für die Annahme einer verfassungsfeindlichen Bestrebung nicht aus, wenn sie nicht mit der Ankündigung von oder der Aufforderung zu konkreten Aktivitäten zur Beseitigung dieser Grundsätze verbunden ist.«
Diesen Maßstäben wird der Verfassungsschutz nicht mit der Kategorie »Delegitimierung des Staates« nicht ansatzweise gerecht. So hat ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes berichtet, dass jeder ins Visier des Verfassungsschutzes geraten kann, »der lediglich die Grünen nicht mag und ein nach offizieller Lesart staatsdelegitmierendes Plakat aufhängt, ein entsprechendes Schild bei einer Demo hochhält oder einen entsprechenden Post in sozialen Medien absetzt. Das reicht schon aus.«
Inzwischen tauchen auch vermehrt regierungskritische Medien und Journalisten in Verfassungsschutzberichten auf.
Legitime Grundrechtsausübung deutet der Geheimdienst schnell in gefährlichen politischen Extremismus um, der dann bekämpft wird.
Prof. Dr. Dr. Volker Boehme-Neßler
Professor für öffentliches Recht an der Universität Oldenburg
Hinweis: Hervorhebung in Zitaten durch Jan Ristau.