Das Recht des Bürgers, (…) aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts ist vom Gesetzgeber beim Erlaß grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten.
Das obige Zitat des Bundesverfassungsgerichts bezog sich im konkreten Fall zwar auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit. Jedoch liegt diesem Zitat ein bestimmter Ansatz zugrunde: Wird die Kundgabe von Meinungen unterdrückt, fehlt eine Voraussetzung für eine freiheitliche demokratische Staatsordnung. Dieser Leitgedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Im Ergebnis kann auch der sogenannte Chilling Effect zu einer Unterdrückung von Meinungen führen.
Was ist der Chilling Effect?
Mit Chilling Effect sind bestimmte Einschüchterungs- oder Abschreckungseffekte gemeint, die dazu führen können, aus Furcht vor Sanktionen freiwillig auf die Ausübung der verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit zu verzichten. In diesem Zusammenhang wird auch von Selbstbeschränkung, vorauseilendem Gehorsam oder Selbstzensur gesprochen.
Auch das Bundesverfassungsgericht problematisiert diesen Effekt, wenn es davon spricht, dass zum Beispiel die Befürchtung einer Überwachung schon im Vorfeld zu einer Befangenheit in der Kommunikation, zu Kommunikationsstörungen und zu Verhaltensanpassungen führen könne.
Im Deutschlandfunk wurde schon im Jahr 2015 berichtet, dass Angst vor bestimmten Konsequenzen tendenziell zu einem verhaltenskonformen Verhalten führt. Forscher würden in diesem Zusammenhang von einer »psychologischen Verletzung der Meinungsfreiheit« sprechen.
Beispiele für den Chilling Effect
Es gibt zahlreiche Beispiele, die den Chilling Effect durch staatliches Handeln zeigen:
Ausdehnung von Strafbarkeit
Jedes Strafgesetz, welches die Meinungsfreiheit reguliert, kann zu Chilling Effects führen. Wenn man es als möglich ansieht oder befürchtet, dass eine Meinungskundgabe zu strafrechtlichen Ermittlungen führen könnte, rückt die Selbstzensur näher. Strafvorschriften, welche in den offenen Meinungsaustausch eingreifen, haben in den letzten Jahren zugenommen. So werden manche Vorschriften des Strafgesetzbuches, die ein Verhalten weit im Vorfeld einer konkreten Rechtsverletzung ansiedeln, in Bezug auf die Meinungsfreiheit in der Fachliteratur teilweise für verfassungsrechtlich höchst bedenklich gehalten.
Beobachtung durch den Verfassungsschutz
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang (CDU), hat es sich zur Aufgabe gemacht, dass sich bestimmte »Denk- und Sprachmuster nicht in unsere Sprache einnisten«. Nach dem Bundesverfassungsgericht hebt jedoch die Absicht, Äußerungen mit schädlichem oder in ihrer gedanklichen Konsequenz gefährlichem Inhalt zu behindern, das Prinzip der Meinungsfreiheit selbst auf und ist illegitim. Bloße Beiträge zur öffentlichen Meinungsbildung können rechtlich kein Anlass sein, Objekt der Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu werden. Die betrifft insbesondere Regierungskritik, wenn diese vom Verfassungsschutz als »Delegitimierung des Staates« bezeichnet wird. Ein großes Problem dabei ist, dass völlig unklar ist, nach welchen Kriterien der Staat diesbezüglich vorgeht.
Es ist gerade diese Ungewissheit, die bei potentiell Betroffenen wie Nichtbetroffenen zu Einschüchterung und Grundrechtsverzicht führen können, welche ihrerseits geeignet wären, die freiheitliche und pluralistische Demokratie zu delegitimieren.
Prof. Dr. Christoph Gusy
Professor für Öffentliches Recht, Staatslehre und Verfassungsgeschichte an der Universität Bielefeld
Einreiseverbote
Im April 2024 wurden Einreiseverbote gegen verschiedene Personen (dazu zählten sowohl EU-Bürger als auch Personen von außerhalb der EU), welche im Rahmen eines Palästina Kongresses in Berlin Reden halten wollten, verhängt. In Bezug auf die Reden war scharfe Kritik an der israelischen Politik im Gaza-Krieg zu erwarten. Prof. Dr. Kai Ambos kommt in Bezug auf diese Vorgänge zu dem Ergebnis, dass sie Ausdruck einer besorgniserregenden Diskursverengung sind, die im Ausland nur Kopfschütteln oder blankes Entsetzen hervorrufe. Auch in Deutschland tätige israelische Intellektuelle und Künstler würden in diesen Vorgängen eine »beispiellose Einschränkung« der Protest- und Meinungsfreiheit sehen.
Der chilling effect dieser neuen Verbotssicherheitspolitik ist allenthalben zu spüren. Studierende und Wissenschaftler laufen mit der Schere im Kopf über Universitätscampusse; Medienschaffende überlegen sehr genau, was sie wie schreiben sollen und/oder dürfen; Anwälte lehnen vorsorglich Mandate und/oder Beratung bei (pro-)palästinensischen Veranstaltungen »wegen der Ereignisse in Berlin« ab. Ist das der liberale Rechtsstaat, als der sich Deutschland zum 75-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes präsentieren will?
Prof. Dr. Kai Ambos
Professor für Straf- und Völkerrecht an der Universität Göttingen und Richter am Kosovo Sondertribunal in Den Haag
Übermäßige Überwachung bei Versammlungen
Eine übermäßige Überwachung durch Behörden bei friedlichen Versammlungen kann ein Klima der Einschüchterung, des Misstrauens und der Angst schaffen und einen abschreckenden Effekt erzeugen und verstärken. Dadurch können Menschen davon abgehalten werden, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahrzunehmen, wenn sie befürchten, identifiziert und Konsequenzen zu erleiden, wenn sie ihre Meinung äußern und friedlich demonstrieren. Chilling Effects in Bezug auf die Meinungsfreiheit, die von einem solchen staatlichem Handeln in Deutschland ausgehen können, werden zum Beispiel von Amnesty International in einem Bericht von Juli 2024 thematisiert. Kritisiert wird zum Beispiel die biometrische Überwachung über Gesichtserkennungstechnologie (Facial Recognition Technology, FRT), der Einsatz sogenannter Bodycams oder die Ausweitung staatlicher Kontroll- und Eingriffsbefugnisse der Polizei in den Versammlungsgesetzen mehrerer Bundesländer.
Rechtswidrige Abmahnungen durch die Bundesregierung
Man stelle sich vor: Ein Journalist tätigt eine von der Meinungsfreiheit geschützte Äußerung, die regierungskritisch ist. Der Journalist wird von der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch ein Bundesministerium abgemahnt, da er angeblich eine falsche Tatsachenbehauptung aufgestellt habe. Der Journalist wehrt sich dagegen und muss bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. Das Bundesverfassungsgericht bescheinigt der Bundesregierung, dass sie anscheinend nicht zwischen falschen Tatsachen und Meinungsäußerungen im Sinne des Grundgesetzes unterscheiden kann.
So ist es geschehen in einem Fall, den das Bundesverfassungsgericht im April 2024 entschieden hat. Wie wirkt das auf einen kritischen Journalisten, der auch mal polemisch Kritik an der Bundesregierung übt? Konsequenz der Abmahnung durch die Bundesregierung war, dass gleich mehrere Gerichte bis hoch zum Bundesverfassungsgericht sich mit den entsprechenden Rechtsfragen beschäftigen. Nicht jeder Journalist hat die Mittel und die Nerven sich gegen solche Angriffe der Bundesregierung zur Wehr zu setzen. Insofern kann es auch hier wieder zu Chilling Effects kommen.
Dass dies kein Einzelfall war, zeigt eine weitere gerichtliche Entscheidung, bei dem die Bundesregierung abermals von der Meinungsfreiheit geschützte Äußerungen unzulässigerweise abgemahnt hat. Bei diesem Sachverhalt ist noch ein weiterer Umstand interessant: Die Bundesregierung trug nämlich vor Gericht vor, dass die beanstandeten Angaben »Fake News« und »allesamt falsch« seien und dass in Summe »gravierende Falschbehauptungen« vorgelegen hätten. Allerdings handelte es sich um grundrechtlich geschützte Meinungsäußerungen, wie das Gericht feststellte. Das Verhalten der Bundesregierung ist also ein Beispiel dafür wie unter dem Deckmantel »Bekämpfung von Falschinformationen und Desinformation« auch von der Meinungsfreiheit geschützte Äußerungen von der Bundesregierung bekämpft werden.
Chilling Effects in den sozialen Medien
Verstöße gegen den Digital Services Act können zu Bußgeldern bis hin zur Sperrung sozialer Netzwerke führen. Was ein Verstoß gegen den Digital Services Act darstellt oder nicht, kann aufgrund der verwendeten unklaren Begriffllichkeiten nicht rechtssicher vorausgesagt werden. Insofern wird in solchen angedrohten Konsequenzen auch ein Einschüchterungseffekt gesehen – mit der Folge, dass aus Angst vor Sanktionen auch rechtmäßige Äußerungen gelöscht werden.
Verengung des Meinungskorridors
Das Magazin Cicero berichtet, dass die Bundesregierung »ein regelrechtes Imperium an Online- und Social-Media-Kanälen mit oft enormen Reichweiten und – teilweise verdeckten – Influencer-Netzwerken auf, um das Meinungsklima im Netz in höchstem Maße zu prägen«. Von einer gebotenen Zurückhaltung des Staates im Meinungskampf ist ebensowenig zu spüren wie davon, dass sich in der Demokratie des Grundgesetzes die Willensbildung grundsätzlich von unten nach oben, also vom Volk zum Staat und nicht vom Staat zum Volk, vollziehen muss.
Wird so der Korridor des Sagbaren verengt, auch durch Leitmedien wie etwa die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und mitunter staatlich geförderten NGOs, die gerade in Bereichen mit gesellschaIlichem Konfiktpotential vorgeben, was zu sagen gesellschaIlich akzeptiert ist, so kann eben dies zu jenem »chilling effect« führen, der die Freiheiten des Artikels 5 Grundgesetz gefährdet, umso mehr, wenn diese Entwicklung vonseiten staatlicher Stellen befördert wird.
Prof. Dr. Christoph Degenhart
emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht der Universität Leipzig und ehemaliger Richter am sächsischen Verfassungsgerichtshof
Hinweis: Hervorhebung in Zitaten durch Jan Ristau.