Die öffentliche Vorstellung, dass Bürgerinnen und Bürger im Netz unschuldig herumsurfen, über Fake News stolpern, von denen in die Irre geführt werden und plötzlich Unsinn denken – das können wir in den Daten eigentlich überhaupt nicht feststellen.
Prof. Dr. Christian Hoffmann
Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig
Der Kampf gegen Desinformation ist in aller Munde. Der Weltrisikobericht 2024 nennt Falsch- und Desinformation als das größte kurzfristige Risiko weltweit. Die Existenz zahlreicher Faktenchecker suggeriert, dass wir von Desinformation umzingelt sind. Das zeigt Wirkung: Nach einer Erhebung der Bertelsmann Stiftung von Anfang 2024 erkennt die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung in Desinformation eine Gefahr für Demokratie und Zusammenhalt.
Die Meinung, dass Desinformation die Demokratie gefährde, teilt allerdings Prof. Dr. Christian Hoffmann, Professor für Kommunikationsmanagement an der Universität Leipzig, nicht. Es würden sich auch nicht sehr viele Sozialwissenschaftler finden, welche diese Meinung teilen. Er hält das Problem Desinformation für überschätzt. Das liege zum einen daran, dass die Verbreitung von Desinformation viel weniger groß ist als gemeinhin angenommen. Die meisten Menschen würden gut zwischen seriösen und unseriösen Nachrichtenquellen unterscheiden können und qualitativ hochwertige Medien konsumieren. Er geht davon aus, dass weniger als 0,1 Prozent von dem, was durchschnittliche Internetnutzer im Internet sehen, tatsächlich als Desinformation oder Misinformation qualifiziert werden könne. Und zum anderen sei die Wirkung von Fake News nach wie vor unklar.
Dass Desinformation «gesamtgesellschaftlich nicht als Riesenproblem zu sehen« und dass die Wirkung fraglich ist, wird von Prof. Dr. Andreas Jungherr, Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Digitale Transformation, an der Universität Bamberg, bestätigt. Vielmehr würde die Warnung vor Desinformation letztendlich dazu führen, dass die Bereitschaft der Bürger für restriktive Regulierung von Online-Kommunikationsumgebungen steigt. Insofern führt die Warnung vor Desinformation bei der Bevölkerung letztlich zu mehr Akzeptanz für Regeln wie zum Beispiel den Digital Services Act.
Was ist überhaupt Desinformation?
Zunächst ist zwischen falschen Informationen (Falschnachrichten, Miss- oder Fehlinformationen) und Desinformation zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen Falschinformation und Desinformation ist dabei, dass bei der Falschinformation falsche Informationen versehentlich in Umlauf gebracht werden, während Desinformation das Ziel hat, Menschen vorsätzlich zu täuschen oder zu beeinflussen. Die Absicht hinter der verbreiteten Information ist also der wesentliche Unterschied zwischen Falschinformation und Desinformation. Das innere Bewusstsein des Äußernden wird jedoch meist nicht offen zutage treten. Nicht jede bloße Falschinformation ist direkt eine Desinformation und es ist deshalb nicht korrekt, eine Falschinformation als Desinformation zu bezeichnen, solange keine Anhaltspunkte für eine bewusste Falschinformation vorliegen.
In die Worte des Bundesverfassungsgerichts übersetzt entspricht also die Falschinformation der unwahren Tatsachenbehauptung und die Desinformation der bewusst unwahren Tatsachenbehauptung. Die bewusst unwahre Tatsachenbehauptung ist grundrechtlich nicht geschützt. Bei der Falschinformation muss – wie bereits ausgeführt wurde – differenziert werden: Steht die Unwahrheit im Zeitpunkt der Äußerung fest, kann sich der Äußernde nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Ist die Richtigkeit einer Tatsachenbehauptung im Zeitpunkt der Äußerung allerdings ungewiss und lässt sich diese auch nicht binnen kürzester Zeit aufklären, ist auch die Falschinformation durch die Meinungsfreiheit geschützt, auch wenn sie sich später als unwahr herausstellt. Und im Zweifel ist von einer geschützten Meinungsäußerung im Sinne des Grundrechts auf Meinungsfreiheit auszugehen.
Vielfach wird statt des Begriffs Desinformation auch der Begriff »Fake News« verwendet. Man könnte diesen Begriff als »falsche Nachrichten« übersetzen, worunter auch irrtümlich, unbewusst oder fahrlässig verbreitete Falschmeldung (Falschnachricht) fallen würden. Der Begriff »Fake News» meint aber meistens «gefälschte Nachrichten» im Sinne der bewusst unwahren Tatsachenbehauptung.
Die Erweiterung des Begriffs der Desinformation
Es ist sehr begrüßenswert, wenn Desinformation nicht toleriert wird. Das gilt jedoch nur, wenn Desinformation so verstanden wird wie es herkömmlich verstanden wird, nämlich als absichtlich verbreitete Falschinformation. Dies würde auch der Wortbedeutung laut Duden entsprechen. Danach ist Desinformation die »bewusst falsche Information zum Zwecke der Täuschung«.
Von der EU-Kommission ausgehend wurde jedoch inzwischen der Begriff der Desinformation erheblich erweitert. Denn für die EU-Kommission fällt unter Desinformation Folgendes (sogenannter viergliedrige Desinformationsbegriff):
- Fehlinformation: »Fehlinformationen sind falsche oder irreführende Inhalte, die ohne vorsätzliche Schädigungsabsicht weitergegeben werden, deren Auswirkungen jedoch schädlich sein können, z. B. wenn Personen falsche Informationen gutgläubig an Freunde und Familienangehörige weitergeben.«
- Desinformation: »Desinformation ist die Verbreitung falscher oder irreführender Inhalte, die der Öffentlichkeit schaden können, in der Absicht, andere zu täuschen oder wirtschaftlich oder politisch daraus Kapital zu schlagen.«
- Einflussnahme auf Informationen: »Unter Einflussnahme auf Informationen sind koordinierte Bemühungen inländischer oder ausländischer Akteure zu verstehen, ein Zielpublikum mit einer Reihe von Täuschungsmitteln zu beeinflussen, unter anderem durch die Unterdrückung unabhängiger Informationsquellen in Kombination mit Desinformation.«
- Einmischungen aus dem Ausland in den Informationsraum: »Einmischungen aus dem Ausland in den Informationsraum, die häufig im Rahmen einer umfassenderen hybriden Operation erfolgen, sind als Zwangsmaßnahmen mit Täuschungsabsicht zu verstehen, mit denen die freie Bildung und die freie Äußerung des politischen Willens des Einzelnen durch einen ausländischen Staat oder dessen Vertretern gestört werden sollen.«
Es wird also nicht nur unzulässigerweise – über die Wortbedeutung hinaus – die Fehlinformation mit Desinformation gleichgesetzt. Vielmehr wird auch der Begriff der Desinformation selbst erweitert auf die Verbreitung »irreführender Inhalte«. Die EU-Kommission geht also davon aus, dass die Verbreitung wahrer, jedoch irreführender Inhalte Desinformation sein kann. Was irreführend ist und was nicht, ist jedoch oft eine reine Wertungsfrage, und damit selbst eine Meinung. Des Weiteren ist das Wort »Inhalt« keine klare Sprache, da unter »Inhalt« auch jede Meinung (also nicht nur die Tatsachenbehauptung) fallen kann.
Hochproblematisch ist, dass dieser viergliedrige Desinformationsbegriff nicht mit den Maßstäben unseres Grundgesetzes zur Meinungsfreiheit, wie sie vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeitet wurden, in Einklang zu bringen ist. Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet insbesondere nicht in Bezug auf die möglichen oder behaupteten Auswirkungen von Inhalten. Nach dem Bundesverfassungsgericht fallen grundsätzlich nur
- bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen (man könnte auch sagen: die Lüge) und
- Tatsachenbehauptungen, deren Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststehen,
nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Alles andere darf unter Berücksichtigung der normalen grundgesetzlichen Schranken (z. B. Jugendschutz, Strafbarkeit) gesagt werden.
Dieser viergliedrige Desinformationsbegriff, der nicht mit der eigentlichen Wortbedeutung zu vereinbaren ist, wurde in dem »Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation« übernommen. Die Bundesregierung nimmt Bezug auf diesen Verhaltenskodex: »Damit verpflichten sich Online-Plattformen, aktiv gegen Desinformation vorzugehen. Es geht zum Beispiel um die Unterstützung von Faktenprüfern oder die Kontrolle von Werbeplatzierungen. Zu den 44 Unterzeichnern des Verhaltenskodex gehören Google, Meta, Microsoft, TikTok, VIMEO, Clubhouse sowie Anbieter von Werbetechnologien.« Sie stellt dabei nicht klar, dass diesem Verhaltenskodex ein ganz anderer Begriff von Desinformation zugrunde liegt, als wahrscheinlich von der Bevölkerung angenommen.
Fazit
Insgesamt ist Folgendes festzuhalten:
- Gemäß den oben genannten Wissenschaftlern ist es keine feststehende Tatsache, dass Desinformation die Demokratie gefährde. Der öffentliche und mediale Diskurs habe sich »recht stark« vom Forschungsstand entkoppelt. In der Forschung würde entspannter und ruhiger mit dem Thema umgegangen und keine generelle Panik verbreitet.
- Demgegenüber warnen die Politik und andere Akteure sehr stark vor Desinformation. Übertriebene Warnungen vor Desinformationen können die Bereitschaft der Bevölkerung für meinungsfreiheitseinschränkende Maßnahmen erhöhen.
- Die Bundesregierung unterscheidet auf ihren Internetseiten noch zutreffend z. B. zwischen Fehlinformation (keine Täuschungsabsicht) und Desinformation (gezielte Täuschungsabsicht).
- Gleichzeitig bewirbt die Bundesregierung den »Verhaltenskodex für Desinformation«. Der Kodex sei ein Schritt mehr hin zu einem transparenteren, sichereren und vertrauenswürdigeren Online-Umfeld. »Der Verhaltenskodex ist zwar freiwillig, soll aber durch das Gesetz über digitale Dienste anerkannt werden. Das Gesetz über digitale Dienste ist bindend.« Transparent macht die Bundesregierung jedoch nicht, dass diesem Verhaltenskodex ein Begriff der Desinformation zugrunde liegt, welcher noch nicht einmal mehr mit der Wortbedeutung übereinstimmt.
Große Konsequenzen hat dies bei der Awendung des Digital Services Act, weil dadurch Inhalte unterdrückt werden, welche sonst unstreitig von der Meinungsfreiheit, wie wir sie bislang in Deutschland kannten, gedeckt sein würden.
Auch kann kein Bürger mehr wissen, was ein Politiker überhaupt meint, wenn er von Desinformation spricht. Meint er den herkömmlichen Begriff oder versteht er unter Desinformation alles, was unter den »viergliedrigen Desinformationsbegriff« fällt? So hat beispielsweise die Innenpolitikerin Irene Mihalic (Bündnis 90/Die Grünen) die Verbreitung des abgehörten Gesprächs von Bundeswehr-Offizieren zur möglichen Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine im März 2024 (sog. Taurus-Abhöraffäre) als Desinformation bezeichnet, obwohl sogar die Bundesregierung die Echtheit des Mitschnitts bestätigte. Manche Politiker bezeichnen also auch wahre Tatsachen als Desinformation, wenn die Wahrheit unerwünscht ist. Auch der Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sprach im Zusammenhand mit der Taurus-Abhöraffäre davon, dass es sich um einen russischen, hybriden Angriff zur Desinformation gehandelt habe. In diese Richtung äußerte sich auch der Politiker Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen), als er im Zusammenhang mit der Taurus-Abhöraffäre forderte, dass Deutschland die eigenen Fähigkeiten ausbauen müsse, »um Spionage und Desinformation abzuwehren«.
Insofern wird der »Kampf gegen Desinformation« für sehr viele Zwecke genutzt: nicht nur zur Bekämpfung falscher Tatsachenbehauptungen, sondern auch zur Bekämpfung unliebsamer Meinungen und sogar zur Bekämpfung unliebsamer Wahrheiten.